Sonntag, 27. Januar 2008

Wir werden gelesen...

Benotung-und-Zeitung

Nichts ist schlimmer als Literatur für die Schublade. Und bevor Ihre Geschichten nach dem Abitur, womöglich in den hintersten Kellerwinkeln, abgestellt im Karton Deutsch 07/08, verschwinden, stellen wir uns jetzt der Öffentlichkeit. Denn es gibt keinen Grund, sich zu verstecken. Den Anfang unserer kleinen, jetzt regelmäßig erscheinenden Edition, macht Daniel Dettmer mit seiner Kurzgeschichte „Sommer ist schon sehr geil“. Dettmer ist begeistert von Charles Bukowski. Auch in seiner short story geht es um Liebe, Alkohol und einem nicht ganz so erhabenen Milieu. Alle hier veröffentlichten Autoren freuen sich sicherlich über Kommentare. Denn Kunst lebt von Auseinandersetzung – und eine lebendige Internetpräsenz auch. Ebenso lohnt sich ein Blick in das Fotoalbum. Dennis Söhlke hat mit viel Sensibilität, Humor und scharfer Beobachtungsgabe unsere Präsentation festgehalten. Wie Robert Musil oder Judith Hermann beginnt Daniel Dettmers Erzähler mit dem Wetterbericht:

Sommer ist schon sehr geil

Von Daniel Dettmer

Daniel-Dettmer

Der Mann vom Wetterbericht verkündet gerade: „Morgen wird der heißeste Tag des Jahres.“ Im Norden bis zu 38°C und im Süden sogar 41°C. Was für ein Sommer! Seit vier Wochen keinen Tropfen Regen und das Thermometer am Anschlag. Das ist der beste Sommer den mein Erinnerungsvermögen rausrücken will. Nicht nur der beste Sommer, es scheint das beste Jahr seit langem zu sein. Seit Februar habe ich einen Job. Die haben mir sogar einen Zwei-Jahres-Vertrag gegeben. Ich arbeite in einer Industrie-Metzgerei, täglich schneide ich 2500 Schweine in zwei Hälften. Das ist sicher kein Traum; harte, monotone Arbeit und die Aufstiegschancen sind verschwindend gering. Aber der Verdienst ist gut, 1.200 netto, und Özgan, mein Vorarbeiter, ist auch ganz in Ordnung. Er ist zumindest nicht so ein Arschloch wie die vielen anderen davor. Ich hatte unter anderem als Pizzalieferant, Tankwart, Versicherungsvertreter und Filmvorführer in einem Pornokino gearbeitet. Nein, ich habe geknechtet, für einen Hungerlohn. Ich wurde ausgenutzt, man hat mich beschimpft und danach gefeuert oder ich habe gekündigt weil mir die Arbeit zu anstrengend war, zu langweilig war oder weil ich einfach keine Lust mehr hatte jeden verdammten Morgen aufzustehen. Aber all dies ist Vergangenheit. Seit Februar habe ich jeden Montag bis Freitag von 6.00 bis 15.00 Uhr Schweine zersägt. Ich hab mich nicht einen Tag krank gemeldet oder bin zu spät gekommen. Das einzige was mir jetzt noch fehlt ist eine Frau. Aber bei denen habe ich seit Elli kein Glück mehr. Das war vor drei Jahren. Die große Liebe. Dachte ich. Sie hat mich mit betrogen, mich belogen und danach behauptet ich habe zu viele Fehler gemacht die unverzeihlich sind. Sie hat ihre Sachen gepackt und dann war sie weg. Seitdem haben wir kein einziges Wort mehr gewechselt. Ich habe sie immer wieder in diversen Bars und Clubs mit diversen männlichen Begleitern gesehen, aber stets ignoriert. Oder besser gesagt, sie hat mich ignoriert. Ich liebe sie immer noch.

Die Nachrichten sind vorbei. Werbung. Ich schalte die 45 Kanäle langsam durch. Langweilig, langweilig, scheiße, bloß nicht, langweilig. Ich knipse schnell weiter bis ich wieder bei Kanal eins angekommen bin. Es läuft einfach nichts. Vorsichtshalber schalte ich die 45 Kanäle noch dreimal hintereinander durch. Nachdem ich ausgerechnet hatte, dass ich in den letzten vier Minuten 170 mal den gleichen Knopf der Fernbedienung gedrückt hatte und das Programm trotzdem nicht besser geworden ist, schalte ich den Fernseher aus. Aber was nun? Es ist Freitag. 12.32 Uhr. Eigentlich habe ich heute einen Tag Urlaub genommen, weil ich vom Straßenverkehrsamt meinen neuen Führerschein abholen wollte. Den alten hatte ich verloren, und da Ämter bekanntlich die vorteilhaftesten Öffnungszeiten haben, nämlich solche zu denen jeder normale Mensch arbeitet, musste ich halt einen Tag frei nehmen um dort hinzukommen. Aber da hab ich heute keine Lust drauf, es ist einfach zu heiß. Ich schwitze. Ich schwitze ja schon, obwohl ich mich noch gar nicht bewegt habe. Die Jungs kann ich auch noch nicht anrufen, einige sind auf der Arbeit und die, die nicht erwerbstätig sind, sind zu so früher Stunde nicht zu erreichen. Als ich das nächste Mal wach werde ist es 15.15 Uhr. Super. Ich springe gleich unter die Dusche. Danach esse ich die halbe Pizza, die von gestern Abend übrig geblieben ist. Anschließend rufe ich einige Freunde an um endlich mal unter die Sonne zu kommen. Nach vielen Versuchen erreiche ich Julian, wir verabreden uns für 16.00 Uhr am Baggersee. Dort angekommen gehen wir sofort schwimmen, wir reden über alte, bessere Zeiten, lassen uns über Frauen aus, trauern unseren Ex-Freundinnen hinterher, schmieden Pläne für den Abend und gehen alle 15 Minuten ins Wasser, um die unerträgliche Hitze erträglich zu machen. Ich verabschiede mich mit den Worten: „Unglaublich das es morgen noch heißer werden soll. Und da haben wir auch noch einen Kater. Ich werde mir wünschen, tot zu sein. Bis später.“ Wieder zu Hause angekommen mache ich mir einen großen Teller Spaghetti Bolognese, den ich schnell aufesse. Dann gehe ich wieder duschen. Ich ziehe mir eine saubere Jeans und ein frisches T-Shirt an. Ich putze sogar meine Schuhe, das hab ich noch nie getan. Aber man muss halt auf jede Kleinigkeit achten wenn man Erfolg bei Frauen haben möchte. Ich bin fest entschlossen, heute die neue große Liebe kennen zu lernen und das „Elli-Dilemma“ hinter mir zu lassen. Und das nach drei Jahren, ich bin verrückt. Dazu werden einige Biere nötig sein, also fahre ich auf dem Weg zu Julian noch bei Tengelmann&Kaiser´s vorbei und kaufe einen Kasten.
Der Rest des Abends nimmt einen erwarteten Verlauf. Wir sitzen bei Julian auf dem Balkon und trinken Bier. Es kommen immer mehr Leute dazu, bis wir etwa zu fünfzehnt sind. Jeder bringt was zu trinken mit. Mit steigender Stimmung steigt auch die Lautstärke und irgendwann gegen 23.30 rufen die Nachbarn die Polizei und die Party ist damit beendet. Es gibt einige Streitigkeiten wie wir den Rest des Abends verbringen sollen. Deshalb teilt sich die Gruppe. Ich gehe mit Julian und zwei weiteren Freunden in den Unique-Club. Es sollte sich später herausstellen, dass dies ein Fehler war. Dort angekommen trinken wir erstmal noch ein Bier an der Theke. Sofort kommen meine beiden Kumpels mit zwei Frauen ins Gespräch und verschwinden mit den beiden in der Lounge des Clubs. Jetzt bin ich wieder mit Julian allein unterwegs. Wir beschließen, Tanzen zu gehen, obwohl ich mich noch viel zu nüchtern fühle, um wirklich tanzen zu können. Julian anscheinend nicht. Es wird gerade „Blumentopf - Party Safari“ gespielt, die Stimmung scheint auf dem Höhepunkt zu sein, obwohl es erst 1.00 Uhr ist. Ich probiere so gut es geht zu tanzen, komme mir aber ziemlich beobachtet vor und verlasse die Tanzfläche schnellst möglich. Ich beobachte aus sicherer Entfernung von der Theke aus, dass Julian voll in seinem Element ist und penetrant verschiedene Frauen antanzt. Eine der Angetanzten geht drauf ein. Die beiden bleiben noch zwei Lieder auf der Tanzfläche und gehen danach wohl auch in die Lounge. Ich bleibe sitzen und bestelle mir noch ein Bier. Das nächste Lied das gespielt wird ist „What's love got to do with it“. Alle Pärchen stürmen auf die Tanzfläche oder küssen sich. Ich kriege das Kotzen. Zwei Schnaps, bitte. Schon besser. Ich rauche eine nach der anderen und gucke den Leuten dabei zu, wie sie sich amüsieren. Ich fühle mich allein. Als wenn das nicht schon schlimm genug wäre, huscht auf einmal Elli durchs Geschehen. Damit haben sich meine hochgesteckten Ziele für heute Abend erledigt. Ich will nur noch hier weg, aber auch nicht nach Hause. Also bestell ich mir noch ein Bier und noch einen Kurzen, dann noch einen und noch einen und noch einen.

Plötzlich werde ich von der Sonne geweckt. Sie blendet mich stark, obwohl meine Augen geschlossen sind. Mein Kopf droht zu platzen. Ich habe unbeschreiblichen Durst. Ich bin total nass geschwitzt, meine Kleidung ist feucht. An meinen Handinnenflächen spüre ich kleine raue Körner. Es fühlt sich an wie Sand. Wo bin ich? Am Strand? Wie bin ich hier her gekommen? Im Hintergrund höre ich Musik und Kinderstimmen. Die Musik kommt mir bekannt vor. Die CD habe ich auch: „Rio Reiser - Junimond“. Langsam probiere ich meine Augen zu öffnen, es ist schwer, weil die Sonne so blendet. Und es ist heiß. Gefühlte 60°C. Als ich es dann geschafft habe meine Augenlider für wenige Millimeter auseinander zu pressen, wird mir schnell klar das ich nicht am Strand bin. Zehn Meter geradeaus steht ein Klettergerüst auf dem Kinder spielen. Ich schaue mich weiter um. Jetzt habe ich begriffen wo ich bin. Auf einem Spielplatz. Auf einem Spielplatz der ca. drei Straßen von meiner Wohnung entfernt ist. Links neben mir fünf Dosen Bier, alle verschlossen. Rechts neben mir eine Flasche Doppelkorn aus der ein Schluck genommen ist und ein großer Haufen Erbrochenes, außerdem zwei Taschentücher. Ich stehe vorsichtig auf. Mir geht es schlecht. Jetzt erkenne ich auch die Musikquelle. Es ist ein Auto. Es ist mein Auto. Nein. Es fühlt sich an, als wenn ich eine Stahlfaust in den Magen gerammt bekomme. Ich übergebe mich zweimal. Die Kinder gucken entsetzt zu mir rüber. Ein Rentnerehepaar, das gerade vorbeigeht, schüttelt mit dem Kopf. Was ist gestern nur passiert? Ich schleiche zum Auto, setze mich rein, stelle die Musik aus, schließe die Tür und kurble das Fenster hoch. Es ist 10.00 Uhr. Ich bleibe lange regungslos sitzen. Alles dreht sich. Ich bin noch immer betrunken. Mein Gewissen droht meine Nervenfasern auseinander zu reißen. Was habe ich nur getan? Ich springe aus dem Auto und gehe einmal drum herum. Alles in Ordnung, keine Kratzer, keine Beulen, Gott sei Dank. Ich setze mich wieder auf den Fahrersitz. Zehn Minuten später ist mein Puls etwas niedriger geworden. 150. Ich fahre los. Auf dem schnellsten Weg nach Hause. Ich parke das Auto auf dem verstecktesten Parkplatz den ich finden kann und gehe so schnell ich kann ins Haus, drei Etagen nach oben und dann in meine Wohnung. Ich lasse die Jalousien runter, zieh meine dreckigen Klamotten aus und lege mich aufs Bett. Ich denke an Elli, an Alkohol, an Freunde, an Autos, an Verkehrsunfälle, an Blut, an Tote, an tote Kinder, tote Tiere, an Fahrerflucht, an durchbrochene Polizeisperren, an Schüsse, ans Gefängnis und viele andere Sachen. Ich nehme 20mg Valium und schlafe ein. Um 16.12 Uhr wache ich wieder auf. Jetzt bin ich nüchtern. Besser geht es mir trotzdem nicht. Mir geht es schlechter, mir geht es viel schlechter. Meine Gedanken sind sofort wieder bei dem Spielplatz, bei dem Auto. Ich versuche den Abend zu rekonstruieren. Ab dem Zeitpunkt als ich Elli gesehen habe, finde ich nur noch Momentaufnahmen in meinem Gedächtnis. Ich hab’ getrunken, ich hab’ mich mit einer Frau unterhalten, hab’ mit einer Frau getanzt und vermutlich habe ich diese Frau auch geküsst. Ich kann mich aber nicht dran erinnern, wer diese Frau war. Der Zeitraum von da an bis zum Aufwachen auf dem Spielplatz wird in meinem Kopf als schwarzes großes Loch dargestellt. Ich habe keinerlei Erinnerungen. Ich wünsche mir ich wäre tot. Dann müsste ich nicht leiden, dann müsste ich nicht ertragen, dass meine Gewissensbisse mich lähmen. Dann müsste ich nicht mehr denken. Aber dieser Wunsch geht nicht in Erfüllung. Mein Telefon klingelt. Ich nehme nicht ab. Ich gucke auf mein Handy. 9 unbeantwortete Anrufe. Zwei sind von Julian, drei von anderen Freunden und 4 von unbekannten Anrufern. Ich denke darüber nach, einen der drei zurückzurufen und zu fragen, was ich gestern Nacht getan habe. Aber mir fehlt die Kraft. Wahrscheinlich hält mich die Angst vor der grausigen Wahrheit über den gestrigen Abend von einem Rückruf ab. Ich quäle mich zur Musikanlage und lege ein Album von Otis Redding ein, wähle Lied 27: „Wonderful World“, schalte auf Wiederholung. Dann lege ich mich wieder ins Bett. Das Lied passt irgendwie gar nicht zu meinem Leben. Aber ich finde es trotzdem toll. Deshalb höre ich es in der nächsten Stunde immer und immer wieder. In der Zeit klingelt das Telefon noch vier Mal. Vier Mal unbekannter Anrufer. Ich bin neugierig, wer die ganze Zeit probiert, mich zu erreichen, traue mich aber nicht abzunehmen. Es vergehen zwei weitere Stunden in denen sich meine Gedanken im Kreis drehen. Jetzt reicht es mir. Ich muss Näheres wissen. Ich rufe Julian an. Der hört sich auch nicht gerade frisch an. Aber er scheint mehr von dem Abend in Erinnerung behalten zu haben als ich. Er sagt, dass er die Frau von der Tanzfläche mit nach Hause genommen hat. Mich hat er die ganze Nacht nicht mehr gesehen. Aber wir hätten noch telefoniert. Gegen 5 Uhr morgens. Er meint, dass er mich kaum verstanden hat. Ich habe gefaselt, dass ich mein Herz wieder gefunden habe und dass ich es nur schnell mit dem Auto abholen würde. Dann habe ich gesagt, dass ich am Strand wäre. Danach aufgelegt. Das sind erst einmal genügend Informationen die ich verarbeiten muss. Danke Julian. Ich melde mich. Irgendwie fühle ich mich ein wenig erleichtert. Zumindest ein wenig. Vielleicht bin ich ja nur mit dem Auto an der Tankstelle vorbei und dann gleich zum Spielplatz, das wären nur ca. 500 Meter. Da ist bestimmt nichts passiert. Aber das bleibt abzuwarten. Abzuwarten, ob die Polizei sich die nächsten Tage bei mir meldet. Ich gucke kurz durch einen Spalt zwischen den Jalousien. Die Sonne scheint. Die Blumen blühen in prächtigen Farben. Im Hinterhof spielen Kinder im Planschbecken. Im Schatten unter dem großen Baum sitzen die Eltern, grillen Würstchen und Steaks, spielen Gitarre und unterhalten sich. Alles wirkt so warm und einladend. Nur nicht für mich. Ich verkrieche mich in mein Bett. Ich könnte heulen. Das Telefon klingelt wieder. Unbekannter Anrufer. Diesmal nehme ich ab. Am anderen Ende der Leitung grüßt eine freundliche Frauenstimme. Es ist Elli.

Montag, 31. Dezember 2007

Präsentation

Eigentlich jedes Jahr dasselbe. Irgendein Buch bekommt man zu Weihnachten immer geschenkt. Und meist findet man genügend Zeit, um es gleich und auf der Stelle zu lesen. Dieses Jahr ist alles anders. Der Büchermainstream liegt noch unterm Baum und in den Händen halte ich Ihre Geschichten. Texte über Tropfkerzen, Tiere in Seifenblasen, Paare im Supermarkt. Die Bandbreite ist groß und gedacht wird global. Ob Afrika, Japan oder Polen.

Nicht jeder von Ihnen erzählt gemäß der Aufgabenstellung mit seinem Kunstwerk eine Geschichte und auch nicht jeder veranschaulicht im Tagebuch den kreativen Prozess. Was jetzt noch im Dunkeln liegt, können Sie mit der Präsentation vielleicht noch ins rechte Licht rücken. Ich jedenfalls bin gespannt.

Ansonsten wünsche ich Ihnen ein erfolgreiches Jahr 2008, das zwischen Abitur, Studium, Ausbildung und Arbeit sicherlich viele Überraschungen für Sie bereithält.

Samstag, 22. Dezember 2007

Auf dem Stundenplan steht Leidenschaft

Schule-der-Leidenschaft

Von Angelique Scholz


Leidenschaft zu erklären, ist schon kompliziert genug, umso schwieriger Leidenschaft zu unterrichten. Aber Sebastian Krämer meistert diese Aufgabe mit Leichtigkeit und verwendet nicht mehr als eine Kombination aus Text und Musik. Denn in seinem Programm „Schule der Leidenschaft“ lautet die Devise: appassionato. Für Krämer haben nicht nur „Tausend Euro“, ein steppender Mond oder ein „Parkhaus ohne Gnom“ mit Leidenschaft zu tun. Auch alltägliche Gegenstände – wie ein Blumenkübel oder ein Liebeslied, das keines ist – sind laut Krämer mit einer solchen besetzt. Er verführte, amüsierte und verzauberte sein Publikum am 7. Dezember 2007 in der Kulturfabrik in Hildesheim mit grandiosen musikalisch literarischen Darbietungen.

Viel Zeit ließ Krämer nicht verstreichen und begann kurz nach 20Uhr im Presto sein erstes Stück „Ich sag´ schon bescheid“, mit welchem er anfangs nervös und etwas außer Atem wirkte. Mit einer ausgelassenen Stimme und am Klavier technisch makellos schulte er die Zuschauer mit seiner Auffassung von Leidenschaft. Hervorstechend sind die bizarren Texte, die jeweils eine eigene Geschichte erzählen und in einer außergewöhnlichen Wendung enden. Die Themen, die das Undenkbare berühren und es mit Beispielen anschaulich machen, werden vom Publikum mit Humor aufgenommen. Mit Ironie präsentiert Krämer seinen „Mülltonnenwalzer“ gesanglich virtuos und scherzhaft am Klavier. Absonderlich setzt er die Mülltrennung mit der Liebelei zu einem Mädchen in Beziehung. Er will ihr seinen grünen Punkt zeigen, den sie gleichzeitig auch noch kompostieren soll. Alles muss möglichst schnell geschehen, da am nächsten Morgen die Müllabfuhr kommt und die beiden dann für immer getrennt würden.

Zwischen Text und Melodie begeistert Krämer sein Publikum mit musikalischer Vielfältigkeit und gesanglich hohem Niveau. So bindet er sich nicht an eine Epoche, sondern gründet daraus seinen eigenen Stil mit schwarzem Humor und der vollkommenen Ausschöpfung aller Emotionen, die Musik zu bieten hat. Am Klavier hält er sich oft an die Eigenheiten Bachs, wie zum Beispiel die polyphone Begleitung und die meisterhaft verbundenen Intervalle Chopins. Es scheint, als würde er nach Belieben Text und Melodie in Verbindung setzen, um den Kontrast unübersehbar zu machen. Wahnhaft emotionale Sprünge koppelt er mit unschuldigen Gesten. Er lässt die Zuhörer nicht aus seinem Bann und leitet sie mit Überzeugung, Mut und Euphorie durch eine Mischung aus sorgfältig geplanter Literatur und Wortspielen, die sich als Höhepunkte zwischen den zahlreich gebotenen Gefühlen erweisen.
Leidenschaftliche Anfänge und obszöne Themen enden ersterbend und ergreifen die Herzen des Publikums. Ein heiteres Menuett im Stile Mozarts sorgt für innere Ausgeglichenheit, wo hingegen der Song „Jongleure“ stimmlich brillant erscheint und Romantik und Blues vereint.

Die zwanglose Sucht nach Krämers paradoxen Themen aus dem Alltag werden durch seine einzigartige Mimik und Gestik verstärkt. Sebastian Krämer versteht es, sich mit seinem Publikum zu verbünden und es mit auf eine Reise durch die Höhen und Tiefen der Leidenschaft zu nehmen. Nach einem zweistündigen Programm entlässt er seine euphorisierten Zuschauer, die sogar noch nach einer dritten Zugabe verlangen.
Aber Leidenschaft entsteht aus Sehnsucht und so bleibt die Freude auf sein nächstes Programm.

Sonntag, 16. Dezember 2007

Liebe wie Kunst...

Alexander-liest-Ortheil

Der Hildesheimer Autor Hanns-Josef Ortheil liest bei Decius aus seinem neuen Roman „Das Verlangen nach Liebe“

Von Alexander Peche



Schon der Titel impliziert Sehnsucht. Er lässt einen an dieses schöne Gefühl im Bauch erinnern. Er verweist auf den Schatten des einen oder anderen Herzens und wirkt ein wenig abgetragen. Der Titel sei der Oper entlehnt, schmunzelt Ortheil. Es sei ein romanischer Titel und eher unüblich für deutsche Autoren. Hanns Josef Ortheil wirkt sehr nahbar. Er spricht ruhig und die gefüllten Reihen in der Decius Buchhandlung hören gebannt zu. Die Geschichte, die er liest, ist vom Handlungsablauf sehr einfach. Der Konzertpianist Johannes trifft nach 18 Jahren seine Jugendliebe Judith wieder. Schauplatz ist Zürich. Beide sind ledig und die alte, so innige Liebe, entfacht sich neu. Aus der Sicht des Johannes erlebt der Leser nun eine feinfühlige, sensible Welt, auf die mit ganzer Macht die Liebe trifft.


Liebe und Musik

Ortheil versinkt beim Lesen in seine Geschichte. Seine Betonung, Mimik und Gestik transportieren sehr gut die Empfindungen des Johannes. Sie lassen den Roman auch ein wenig unbeschwerter erscheinen, als ihn der Leser empfindet. Das Buch wirkt beim Lesen fast schon erschreckend tiefsinnig. Die Szenen, die er liest, ergänzt er mit kleinen Erläuterungen und Anekdoten. So vergleicht er zum Beispiel Johannes Verlangen nach Judith als eine Art Magnetismus, dem er sich nicht widersetzten kann. Er wird von ihr durch die Stadt gezogen. In diesem Zusammenhang gibt Ortheil eine Szene zum Besten, in der Johannes nachts sein Hotelzimmer verlässt und Judith aus einiger Entfernung in ihrem Hotelrestaurant beobachtet. „Du hattest es nicht für möglich gehalten, dass es neben der Musik noch etwas vergleichbar Anziehendes und Intensives gab“, rezitiert der Autor und schaut in die Reihen der Zuhörer. „Die Liebe ist Johannes Gegenpol zur Musik“, erklärt er. Liebe und Musik übersetzen ihm die Welt. Weiter heißt es: „ …denn die Liebe und die Musik wirken wie Medien einer Verwandlung der Welt ins Emphatische, so wurde die Welt Text und Klang, so wurde sie Erzählung und Komposition.“


"Zungenschnalzendes Glück"


Sympathischerweise betont Ortheil, dass sein Roman kein Vorwissen, keine tiefe Bildung in Bereichen wie klassischer Musik oder Kunst voraussetzt. Und dass er diese so genannten Bildungszitate nicht mag. Die Lesung endet mit einem Gespräch zwischen Ortheil und dem gut vorbereiteten Decius-Geschäftsleiter Albert Joosten. Sichtlich angetan erwähnt er, dass auch Ortheil ausgebildeter Konzertpianist sei. Die Figur Johannes ist nun noch besser zu verstehen. Josten gibt ein paar Informationen zur klassischen Musik und sieht viele Parallelen zum Buch. Leben und Kunstwerk setzt er miteinander in Beziehung. Auch eine Zugabe gibt Ortheil. Er liest eine Szene, in der Johannes das Thomas Mann Zimmer in Zürich besichtigt und ganz angetan von Manns Wortschöpfung „zungenschnalzendes Glück“ ist. Mit dieser heiteren Szene lässt er die Lesung ausklingen und verabschiedet die emotional aufgewühlten Zuhörer. Sein Roman ist rundum schön, wie eine Sonate für die wahre Liebe. Es gibt sie!

Entfremdet

Freya-liest-Pascal-Mercier

„Lea“, Pascal Merciers neuer Roman

Von Freya Kramer

Zwischen Vätern und Töchtern ist oftmals eine innige Beziehung zu beobachten. Das Verhältnis lässt sich im Allgemeinen als emotional und eng beschreiben. Nähe, Vertrauen und Verständnis sind weitere Aspekte, die eine besondere Beziehung auszeichnen.
Auf jeden Fall anders als Mütter und Töchter sie führen. Väter haben oft diesen Beschützer-instinkt. Aber wovor wollen sie eigentlich beschützen? Vor den Ungerechtigkeiten des Lebens? Natürlich möchten sie für ihre Töchter nur das Beste und sie tun möglichst alles, um diese zufrieden zu stellen. Dabei vergessen diese Väter manchmal sogar den Bezug zur Realität.

In dem jüngsten Werk des vielfach ausgezeichneten Autors Pascal Mercier nimmt er sich dieser besonderen Beziehung an. Tochter und Vater trauern hier um die verstorbene Mutter und Ehefrau. Das Schicksal des 8-jährigen Mädchens Lea nimmt seinen Lauf als sie die, von einer Unbekannten auf der Geige gespielten, Partita von Bach in E-Dur hört. Von diesem Moment an erwacht Lea aus der Erstarrung, die durch den Tod der Mutter ausgelöst wurde. Fortan ist sie von dem Wunsch besessen, Geige zu lernen. Ihr herausragendes Talent wird von einer Lehrerin erkannt und gefördert. So geht sie einen Weg, der zur Virtuosität und Ruhm führt. Während Lea einem Erfolg nach dem nächsten hinterherläuft, beginnt das Geigenspiel zum Lebensinhalt zwischen ihr und dem Vater zu werden. Wie sollte es anders sein? Der Vater bietet der Tochter Rückhalt. Er tut alles, um sie glücklich zu machen. So erhält die Tochter von ihm bedingungslose Unterstützung. Trotz allem führen die beiden keine harmonische Beziehung. Denn das trügerische Familienbild wird durch eine Veränderung in Leas Persönlichkeit getrübt. Sie scheint keinen klaren Gedanken mehr fassen zu können und verliert die Fähigkeit, sich klar zu äußern. Im weiteren Verlauf distanziert sich Lea von ihrem Vater, dem sie jetzt wie einen Fremden begegnet.

Das Thema Fremdheit zieht sich wie ein roter Faden durch Pascal Merciers Bücher. Bereits in seinem Weltbestseller „Nachtzug nach Lissabon“ war die Auseinandersetzung mit dieser von großer Bedeutung. Hier erlebt ein Altphilologe die Fremdheit in seiner Heimatstadt, wogegen sich in Lea zwei Menschen voneinander entfernen, die sich doch so nah sind. Das Paradoxe ist, dass die Fremdheit dort auftaucht, wo man sie am wenigsten vermutet. Wer würde schon in einer Familie nach einer solchen suchen oder sich in seiner Heimat fremd fühlen? Zwischen Lea und ihrem Vater schleicht sich dieses trennende Unbehagen ein. Lea zieht sich in ihre eigene Welt zurück, die für den Vater keinen Zugang bereithält. Um seine Tochter zurückzugewinnen, begeht er ein Verbrechen.

Hinter Pascal Mercier verbirgt sich Peter Bieri, der unter diesem Pseudonym seit einigen Jahren Romane veröffentlicht. Dennoch ist es nicht ein und dieselbe Person. Pascal Mercier ist Schriftsteller, wogegen Peter Bieri als Philosophie-Professor an der TU in Berlin lehrt und philosophische Schriften publiziert. Dass Mercier von seinem Alter Ego beeinflusst ist, wird beim Lesen der Bücher deutlich. Denn die Romane behandeln meist philosophische Inhalte.


Blind für das Verhalten der Tochter


Sowohl in „Nachtzug nach Lissabon“ als auch in „Lea“ berichten gescheiterte Existenzen von ihrem Leben. Es sind die Akademiker, die von ihrem Dasein gekennzeichnet sind und sich in einer Lebenskrise befinden. Allerdings kommt der Protagonist aus „Nachtzug nach Lissabon“ noch aus seiner Lebenskrise heraus. Schon zu Beginn des Buches wird deutlich, dass es mit dem Vater kein gutes Ende nehmen und die Novelle zu unweigerlichen Katastrophe hinführen wird.


Nicht ganz normal


Zeitweise weiß man nicht, ob man der Geschichte trauen kann, die Leas Vater in der Rückschau einem ihm fremden Menschen erzählt. Denn auch der Vater scheint an emotionalen Störungen zu leiden. Denn wie wäre es sonst zu erklären, dass er die Psychose seiner Tochter unbeachtet lässt und nicht naheliegenderweise professionellen Rat aufsucht. Hier wird der ansonsten fürsorgliche Vater seiner Rolle nicht gerecht. Dadurch, dass Lea nicht frühzeitig geholfen wird, verschlimmert sich ihr Zustand. Erst als die Katastrophe abzusehen ist, wird sie in eine Anstalt eingeliefert. Trotz des Vorwurfes, ihr nicht geholfen zu haben, empfindet der Leser Sympathie für den Vater. Das liegt daran, dass Pascal Mercier diesen als einen bemitleidenswerten Mann beschreibt.


Im Ton vergriffen

An einigen Textstellen hätte man doch gerne erfahren, wie Lea denkt und fühlt. Leider bleibt diese Sichtweise ausgeschlossen, da die Geschichte aus dem Blickwinkel des Vaters erzählt wird.
Pascal Mercier versteht es, die Wörter wie Musik aufzufassen. Die Sätze sind opulent ausgeschmückt, in ihnen schwingt eine gewisse Tragik mit. Wie z.B.: „Sie würde oben stehen und ihre unvergleichlichen Kathedralen aus sakralen Tönen bauen.“ Der Schreibstil ist dem Thema nicht angemessen.
Nur weil ein Autor zuvor mit seinem Roman einen großen Erfolg bei Publikum und Kritik feierte, heißt dies nicht, dass man sich von einem Nachfolgeroman zwangsläufig viel erhoffen darf. Trotz allem versetzt es den Leser in eine melancholische Stimmung und regt zum Nachdenken an.

Sonntag, 9. Dezember 2007

Ein leerer Platz - Wir gratulieren!!!!

Matthias-ist-entschuldigt

Diese beiden Namen passen eindeutig zusammen und könnten patriarchischer kaum sein. Noah, der Erbauer der Arche und Retter des Lebens. Vito, Beschützer seines Viertels und Familienclans. Zumindest der Vito Corleone aus den ersten beiden Godfather-Filmen. Ganz herzlich gratulieren wir Martha Johanna und Matthias Schärfer zu der Geburt Ihres Sohnes Noah Vito. Noah Vito wünschen wir, dass er oft den Regenbogen sieht und mit der Kraft Marlon Brandos und Robert de Niros durchs Leben geht.


Erfüllung (Matthias)

Du
Sonnenaufgang am kühlen Morgen,
zierlich,
nicht perfekt, aber doch vollkommen,
wie süßer Wein
beschwingend,
ein Engel,
der leise Klänge an der Harfe anstimmt,
die mein Herz mit vollem Klang erfüllen.

Hoffentlich nicht ganz autobiographisch

Sensationslust

Erste Sätze sind wie erste Schritte. „Lange Zeit bin ich früh schlafen gegangen“ ist ein Standardsatz, den vermeintliche Literaturliebhaber – und sogar ein paar echte – immer wieder als ihren Lieblingsromananfang angeben. Literaturstudenten sind eher begeistert von: „Es war ein verrückter, schwüler Sommer, dieser Sommer, in dem die Rosenbergs auf den elektrischen Stuhl kamen und ich nicht wußte, was ich in New York eigentlich wollte.“ Wer weiterlesen möchte: Sylvia Plaths „Die Glasglocke“ ist in den Ferien zu schaffen. Marcel Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ ist eher für die Jahre nach dem Abitur.

Der Anfang ist gemacht


Noch bedrohlicher als bei Plath ist der Anfang von Maximilians Geschichte: „Wir trafen uns, wie jeden Abend, bei einer großen Fastfoodkette, die ein gebogenes M als Markenzeichen trägt.“ Bedrohlich vor allem sein anschließendes Bekenntnis, dass diese Geschichte autobiographisch sei. Spätestens seit Morgan Spurlocks Dokumentarfilm „Supersize Me“ weiß man ja, was das Essen und die Marketingstrategien dieses multinationalen Konzerns alles anrichten können. Bleibt zu hoffen, dass die Gruppe – wie die Stromkastengangs im Ruhrpott – sich nur vor dem Schnellimbiss trifft oder es sich lediglich um die Begegnung zweier Menschen handelt. Ein langweiliges Schwadronieren, wie bei Günter Grass´ „Ein weites Feld“, über den Namen dieses Konzerns, ist bei Maximilian sicherlich nicht zu erwarten. Auch bei Kerstin ist noch alles möglich. Die Geschichte, die sie immer wieder einem kleinen Jungen erzählt und jetzt niederschreiben wird, beginnt mit: „Auf einer großen grünen Wiese.“ Ein Szenario wie bei Alice im Wunderland, den Teletubbies oder Heavenly Creatures. Wie gesagt, alles ist noch möglich, vermutlich folgt Kerstin aber eher den Spuren Lewis Carrolls.
Vor einigen Wochen quälten sich die Schüler noch mit Begriffen wie Figurenerzähler, Kulminationspunkt und Peripetie. Auf Jo Köhlers Frage, was zum Erzählen dazu gehört, können Sie jetzt, gemäß des Antischulkonzepts, ihren Gedanken freien Lauf lassen. Figurenpersonal, Authentizität, Charakter, Originalität waren die Antworten. Für Jo Köhler ist es, selbstverständlicher hätte es eigentlich nicht sein können, die Sprache, die den Figuren Leben einhaucht.

Nietzsche neuinterpretiert


Zur Inspiration gab es in der vergangenen Woche auch Friedrich Nietzsche. Über den Aphorismus „Ich war wohl ein zu starker Sucher des Glücks, denn erst als ich müde wurde, hat es mich eingeholt“ ließ Köhler nachdenken. Stefan gelingt es in wenigen Sätzen, die gesamte bisherige Nietzsche-Forschung zu beerdigen. Seine Interpretation: „Jeder strebt in seinem irdischen Leben nach Glück. Erst im ewigen Leben kann man es erlangen.“ Nietzsche also doch kein Atheist? Die berühmte Passage aus der Fröhlichen Wissenschaft - „Wohin ist Gott? rief er, ich will es euch sagen! Wir haben ihn getötet, – ihr und ich! Wir alle sind seine Mörder!“ – nur ein Ausrutscher? Man kann Stefans Ansichten durchaus mit Derrida und der „différance“ rechtfertigen. Signifikant und Signifikat sind nie identisch und der Text lässt durchaus auf ein jenseitiges Leben schließen. Da kann Nietzsche jetzt nichts mehr machen. Auch nicht Antoine de Saint-Exupéry, der außer dem niedlichen „kleinen Prinzen“ noch andere Bücher geschrieben hat, z.B. „Die Stadt in der Wüste“. Jo Köhlers Aufgabenstellung: Aus einem Ausschnitt eine beeindruckende Textstelle auswählen. Davon gibt es viele: „Denn dein Reichtum besteht im Brunnenbohren, im Erlangen eines Ruhetages, im Schürfen von Diamanten, im Gewinnen der Liebe“ beispielsweise oder „Als ob es jemals ein Ziel gegeben hätte.“ Dabei hat das letztere Zitat eigentlich keine Gültigkeit. Denn die Abgabe der künstlerischen Werke und Tagebücher ist nicht mehr allzu lange hin.

Gleich-zwei-Meldungen
Andr-

Liebe, Gefangenschaft und Freiheit

Schule kann doch ein inspirierender Ort sein. Nach einem von Jo Köhler angeleiteten Schreib-Spiel entstanden folgende Werke:


Liebe (Sandra)

So gelb wie die Sonne,
so schön wie die Blumen,
so weich wie der Sand,
so sehr lieben wir dich

Jetzt bist Du der Frühling,
Jetzt bist Du das Rauschen der Blätter,
Jetzt bist Du noch in unserer Erinnerung
und unserem Herzen.
Wir lieben Dich.



Freiheit (Maximilian)

Es ist hellblau
es ist kantenlos
es ist weich
es ist frisch
es ist leise
Freiheit



Gefangenschaft (Sina)


grau wie der matschige Schnee
mit dem strubbeligen, verfilzten
Fell eines Straßenkindes
Aus dem Mund
bitterer Rosenkohlgeruch und Feuerwehr Sirene.
Leben in Gefangenschaft!



Freundschaft (Britta)


Es ist wie viele bunte helle Farben,
es ist wie ein großes Tuch, es ist groß und stark,
es ist wie eine duftende Blumenwiese, es ist wie schöne Melodien.
Freundschaft



Du bist so frei (Anonyma)

So babyblau und sanft weißgrau gefleckt
So zart, als könne jeder Hauch vernichtend sein
So unschuldig, lieblich und vielsagend
So allein klingt deine Stimme
Ich möcht´ dich auf Ewigkeit einfangen.



Schulstoff (Dennis)

Schülern wird pechschwarz
Lehrers Stoff rund und eckig
scharf wie eine Klinge beim Kapieren,
Knisternd wie Brause
doch wohl eher die Rückkopplung einer Stereoanlage



„No name“ – „Kein Name“ (Anonymus)

Es ist Pechschwarz.
Wenn die Sonne scheint hat es alle Farben, die
man kennt und darüber hinaus.
Es ändert seine Gestalt. Es hält sich nicht an
eine. Man kennt die Gestalt nicht.
Man kann es nicht erfassen. Man sieht es vor sich, doch kann man es nicht ergreifen. Man fasst hindurch.
Man versteht es nicht.
Man denkt, es würde schmecken, aber es ist neutral. Es ist bittersüß und salzig ätzend.
Man hört es immer, doch will man es nicht hören.
Man will es übertönen.
Es bedeutet viel und am besten nichts.

Sonntag, 25. November 2007

Kein Land in Sicht



Die Schüler der BOS 13 zum Schreiben zu motivieren, ist die Aufgabe von Jo Köhler. Er versteht sich als Bergführer, der zum Gipfel führen möchte und dem am Ende der Woche doch einige die Treue versagten. Zu unbekannt erschien vielen das Terrain. Aber man kennt dies ja aus alten Piratenfilmen und Seefahrergeschichten: Ist kein Land in Sicht wird gemeutert.


Auch Schriftsteller lesen


Dabei hat die Woche harmlos begonnen. Köhler fragt nach den eigenen Lektüreerfahrungen und bekanntlich sind die besten Schriftsteller auch gute Leser. Essays von Marcel Proust oder Sándor Márais Tagebücher zeigen, dass das Lesen zum Schreiben dazu gehört.
Janin beispielsweise ist von Steven King fasziniert und befindet sich dabei in guter Gesellschaft mit Autoren wie Stewart O´Nan oder Dietmar Dath. Freya mag besonders gerne Krimis, vor allem die aus Skandinavien. Vielleicht sind es übersinnliche, blutige und natürlich sozialkritische Geschichten, die von den beiden zu erwarten sind.
Auch Jo Köhlers Lyrik könnte einige inspirieren. Sein jüngstes Gedicht „Herbst Zeit Los“ empfindet Alexander als stimmungsvoll. Am Ende heißt es dort: „Ach eigentlich –/ überhaupt kein Ziel nix/ kein goldenes Meer/ längst fort“. Mit Oberbürgermeister Kurt Machens jedenfalls diskutierte Köhler mehr als eine halbe Stunde über das „goldene Meer“.
Aber nicht nur Literatur kann Quelle der Inspiration sein sondern auch das Alltägliche. Diese Meinung vertritt jedenfalls Maximilian und vielleicht ist sein Held ein neuer Abschaffel, so einer wie aus Wilhelm Genazinos berühmter Romantrilogie. Dennis steht eher in der Tradition Robert Walsers, des schreibenden Spaziergängers.

Gesucht und schon gefunden
Der-Osten-als-Urlaubsziel
Bereits einige der Schüler haben sich für einen Gegenstand entschieden. Politisch könnte es bei Stefan zugehen. Sein Objekt der schriftstellerischen Begierde: Einen alten Reiseführer der BRD, der auf die schönstens Sehenswürdigkeiten der DDR verweist. Stefan ist in der ehemaligen DDR aufgewachsen und hat sicherlich andere Erfahrungen als nur Spreewaldgurken und Café Mukkefuk. Bereits seit einigen Jahren ist auch in der Kunst Schluss mit lustig. Zumindest in „Das Leben der anderen“ und den Büchern von Katrin Askan.
Faeeza hat ein Tagebuch, mit ihrer Freundin im Alter von 12 geschrieben, hervorgekramt und wird sich in der Rückschau sicherlich noch mal neu und anders begegnen. Lena ist von einer Parkbank am Hohnsen fasziniert, die sie bei ihren Spaziergängen mit der Oma immer mal wieder ansteuert. Britta, Sängerin einer Big Band, nimmt ein Mikrophon zum Ausgang ihrer Werke, Angelique eine Geige. Mit größter Leidenschaft stellt Patrick seinen Gegenstand vor: einen orangefarbenen kleinen Drachen. Dass ihn dieses Fabeltier schon lange begleitet, merkt man an seinem kleinen kulturhistorischen Vortrag. Von den Wikingern bis zu den Chinesen. Ein ambivalentes Wesen, das gleichzeitig für gut und böse steht. Freya überrascht mit einer kleinen Schneekugel und wer Orson Welles „Citizen Kane“ gesehen hat, weiß, welche Geschichten sich in so einem Objekt verbergen können.
Freya-und-die-Schneekugel

„Worauf wollen Sie hinaus?“

Köhler hat in der vergangenen Woche einiges getan, um das leere Blatt zu füllen. Mit Passagen aus Ruiz Zafóns „Der Schatten des Windes“ oder Joachim Bauers Buch „Prinzip Menschlichkeit“. Bauer beschreibt das körpereigene Motivationssystem und behauptet: „Die beste Droge für den Menschen ist der Mensch.“ Hobbes hätte dies sicherlich anders gesehen.
Köhler ist vor allem ein Reisender durch die Kulturen. Vom ungarischen „halom“ bis zu dem persischen Sprichwort: „Es kommt nicht auf die Länge des Weges des an, sondern auf die Breite.“ Den Exkurs zur Kultur der Samen und dem sogenannten „Joik“, einem Lied das von der Geburt bis zum Tod weitergedichtet wird, möchten die meisten der Schüler nicht mehr nachvollziehen. Sina fragte klar und direkt: „Worauf wollen Sie hinaus?“ Köhler hat diesen „Ausbruch“ erwartet, allerdings noch nicht in dieser Stunde. Viele wünschen sich jetzt den Übergang in die Praxis, insbesondere wegen des Abgabetermins im Dezember. Doch möchte Köhler nicht das Schreiben erklären. Denn: „Lange genug haben Euch Leute, Lehrer erklärt, was ihr zu tun habt.“ Die Unsicherheiten sind bei vielen gewachsen. Dennoch hat sich ein kreativer Prozess in Gang gesetzt, der in den nächsten Stunden sicherlich nicht mehr zu stoppen sein wird.
Faeeza-und-ihr-altes-Tagebuch

Samstag, 17. November 2007

„Ein falsches Wort und du bist tot!“

Provokateur

Start des Literaturprojektes

Von Berlin bis in die Karibik, vom „Sound einer neuen Generation“ bis „Pop“. Judith Hermann und Benjamin von Stuckrad-Barre hießen die Autoren der ersten Runde. Ihre erfolgreichsten Bücher entstanden in den 90er Jahren, jetzt ist Zeit für eine neue Generation und vielleicht auch Zeit für neue Themen. Welche dies sein könnten, wird man bereits in einigen Monaten wissen. Denn im Januar 2008 präsentieren die Schülerinnen und Schüler der BOS 13 der Elisabeth-von-Rantzau-Schule im Rahmen des Literaturprojektes "Erzähl mir eine Geschichte`" ihre künstlerischen Werke. Einzige Aufgabenstellung: Die Geschichte, die sich hinter einem banalen Gegenstand verbirgt, in eine künstlerische Form bringen.

Kreativität unterrichten

Auch wenn man als Literat im Stillen dichtet, von ganz alleine wird man es nur selten. Seit einigen Jahren gibt es in Leipzig und Hildesheim sogar recht erfolgreiche Studiengänge, die bei diesem Berufswunsch behilflich sind. In der Elisabeth-von-Rantzau-Schule ist es der Hildesheimer Autor Jo Köhler, der die Schüler bezüglich ihrer Ausdrucksformen fördert und sie zum eigenen kreativen Prozess inspiriert. Jo Köhler, Geschäftsführer des „Fördervereins Forum Literatur. Büro e.V.“ ist vor allem bekannt für seine Kunst im öffentlichen Raum. Von den Lyrik-Plakaten in Bussen und Bushaltestellen bis zu dem „Ei der tausend Wünsche...“, einem Projekt während der Expo 2000. Gerade erst hat er die Arbeit an seinem neuen Roman beendet.

Provokation


Würden andere Jo Köhler als Schriftsteller bezeichnen, nennt er sich „Mensch beziehungsweise Dichter“. Ein Berufstitel, der schon zu Beginn des Projekts für Irritation sorgt. Angelique jedenfalls will dies nicht einfach so hinnehmen. „Wie kann man Mensch werden?“ hakt sie fast ein wenig dadaistisch nach. „Das Leben hat es für mich ergeben. Es ist ein bewusster Weg und es hat mit Leidenschaft zu tun. Nicht wovon ich lebe ist wichtig, sondern wofür“, so die Antwort Köhlers. Vor allem Provokation ist das Element mit dem Köhler arbeitet.
Und so steht er in der Tradition der historischen Avantgarde der 20er Jahre, auf die sich Provokateure, von Beuys bis Schlingensief, immer wieder beziehen. Sein Ziel ist es, bei den Schülern etwas auszulösen, die Kreativität in Gang zu setzen. So wie am zweiten Projekttag. „Ein falsches Wort und du bist tot!“ steht auf dem Schild, mit dem Köhler die Stuhlreihen abschreitet. Dies wirkt. Für Kerstin geht von dem Schild eine abschreckende Wirkung aus, Carl-Alexander fühlt sich tatsächlich provoziert und Matthias sogar bedroht. Alexander, der schon sein Rousseaureferat mit dem Film „Fight Club“ veranschaulichte, fühlt sich an Clint Eastwood-Filme erinnert. Der Revolverheld hat dort die Macht und der andere eben nicht. „Habt ihr in der Schule Angst vor Fehlern?“ fragt Köhler anschließend. Und so wird klar, dass mit dem Schild die Schulsituation aufgebrochen werden soll. Schule, die Köhler als Ort der Gewalt erfahren hat und in der man, seiner Meinung nach, auf gewisse Dinge konditioniert wird.

Leiden als Quelle der Inspiration

Eine länger geführte Diskussion über die Notengebung zeigt aber auch eine gewisse Widersprüchlichkeit des Projekts und die daraus resultierenden Unsicherheiten der Schüler. Denn trotz der angebotenen Freiheit lässt sich auch hier eine Benotung im Abiturjahrgang nicht vermeiden. Und so bleibt bei den Schülern das Gefühl, bestimmten Anforderungen genügen zu müssen.
Aber trotz allem ist das Projekt eine Chance, sich für die eigene Kreativität Zeit zu nehmen. Nicht wenige der Schüler haben sich künstlerisch und vor allem literarisch bereits ausprobiert. Carl-Alexander schrieb Tagebuch, Corinna verfasst seit ihrem 12. Lebensjahr Geschichten. Lena setzte sich während ihrer Waldorfschulzeit mit dem 11.September lyrisch auseinander. Kerstin erdenkt sich Tiergeschichten und Angelique hat ebenfalls im Alter von zwölf Jahren Geschichten geschrieben. Als sie noch Zeit und Ruhe dafür fand.

der-einzige-maennliche-Tagebuchschreiber

Köhlers Ansatz ist Leiden als Quelle künstlerischen Schaffens: „Das Leiden ist das Kostbarste, was ich habe. Das Kreative hat immer etwas Therapeutisches.“ Einige der Schüler teilen seine Ansicht. Matthias beispielsweise schrieb vor einigen Jahren, als es ihm schlechter ging, Lieder. Jetzt nicht mehr, denn er fühlt sich glücklich.
Ganz klar, dass es gewisse Themen gibt, die mit dem Leiden eng verbunden sind. „Liebe und Tod“ sind für Köhler die wichtigsten. Der Filmemacher Fatih Akin würde mit Köhler in diesem Punkt sicherlich übereinstimmen. „Gegen die Wand“ hat er der Liebe und „Auf der anderen Seite“ dem Tod gewidmet.
Vielen in der BOS 13 ist noch nicht klar, zu welchem Kunstwerk sie in der Lage sind.
Aber allen Befürchtungen zum trotz: Der Weg ist das Ziel. Und somit Kreativität in gewisser Weise auch planbar.
Stephan-studiert-Fotos-von-Jo-Koehler
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