Von Daniel Dettmer
Der Mann vom Wetterbericht verkündet gerade: „Morgen wird der heißeste Tag des Jahres.“ Im Norden bis zu 38°C und im Süden sogar 41°C. Was für ein Sommer! Seit vier Wochen keinen Tropfen Regen und das Thermometer am Anschlag. Das ist der beste Sommer den mein Erinnerungsvermögen rausrücken will. Nicht nur der beste Sommer, es scheint das beste Jahr seit langem zu sein. Seit Februar habe ich einen Job. Die haben mir sogar einen Zwei-Jahres-Vertrag gegeben. Ich arbeite in einer Industrie-Metzgerei, täglich schneide ich 2500 Schweine in zwei Hälften. Das ist sicher kein Traum; harte, monotone Arbeit und die Aufstiegschancen sind verschwindend gering. Aber der Verdienst ist gut, 1.200 netto, und Özgan, mein Vorarbeiter, ist auch ganz in Ordnung. Er ist zumindest nicht so ein Arschloch wie die vielen anderen davor. Ich hatte unter anderem als Pizzalieferant, Tankwart, Versicherungsvertreter und Filmvorführer in einem Pornokino gearbeitet. Nein, ich habe geknechtet, für einen Hungerlohn. Ich wurde ausgenutzt, man hat mich beschimpft und danach gefeuert oder ich habe gekündigt weil mir die Arbeit zu anstrengend war, zu langweilig war oder weil ich einfach keine Lust mehr hatte jeden verdammten Morgen aufzustehen. Aber all dies ist Vergangenheit. Seit Februar habe ich jeden Montag bis Freitag von 6.00 bis 15.00 Uhr Schweine zersägt. Ich hab mich nicht einen Tag krank gemeldet oder bin zu spät gekommen. Das einzige was mir jetzt noch fehlt ist eine Frau. Aber bei denen habe ich seit Elli kein Glück mehr. Das war vor drei Jahren. Die große Liebe. Dachte ich. Sie hat mich mit betrogen, mich belogen und danach behauptet ich habe zu viele Fehler gemacht die unverzeihlich sind. Sie hat ihre Sachen gepackt und dann war sie weg. Seitdem haben wir kein einziges Wort mehr gewechselt. Ich habe sie immer wieder in diversen Bars und Clubs mit diversen männlichen Begleitern gesehen, aber stets ignoriert. Oder besser gesagt, sie hat mich ignoriert. Ich liebe sie immer noch.
Die Nachrichten sind vorbei. Werbung. Ich schalte die 45 Kanäle langsam durch. Langweilig, langweilig, scheiße, bloß nicht, langweilig. Ich knipse schnell weiter bis ich wieder bei Kanal eins angekommen bin. Es läuft einfach nichts. Vorsichtshalber schalte ich die 45 Kanäle noch dreimal hintereinander durch. Nachdem ich ausgerechnet hatte, dass ich in den letzten vier Minuten 170 mal den gleichen Knopf der Fernbedienung gedrückt hatte und das Programm trotzdem nicht besser geworden ist, schalte ich den Fernseher aus. Aber was nun? Es ist Freitag. 12.32 Uhr. Eigentlich habe ich heute einen Tag Urlaub genommen, weil ich vom Straßenverkehrsamt meinen neuen Führerschein abholen wollte. Den alten hatte ich verloren, und da Ämter bekanntlich die vorteilhaftesten Öffnungszeiten haben, nämlich solche zu denen jeder normale Mensch arbeitet, musste ich halt einen Tag frei nehmen um dort hinzukommen. Aber da hab ich heute keine Lust drauf, es ist einfach zu heiß. Ich schwitze. Ich schwitze ja schon, obwohl ich mich noch gar nicht bewegt habe. Die Jungs kann ich auch noch nicht anrufen, einige sind auf der Arbeit und die, die nicht erwerbstätig sind, sind zu so früher Stunde nicht zu erreichen. Als ich das nächste Mal wach werde ist es 15.15 Uhr. Super. Ich springe gleich unter die Dusche. Danach esse ich die halbe Pizza, die von gestern Abend übrig geblieben ist. Anschließend rufe ich einige Freunde an um endlich mal unter die Sonne zu kommen. Nach vielen Versuchen erreiche ich Julian, wir verabreden uns für 16.00 Uhr am Baggersee. Dort angekommen gehen wir sofort schwimmen, wir reden über alte, bessere Zeiten, lassen uns über Frauen aus, trauern unseren Ex-Freundinnen hinterher, schmieden Pläne für den Abend und gehen alle 15 Minuten ins Wasser, um die unerträgliche Hitze erträglich zu machen. Ich verabschiede mich mit den Worten: „Unglaublich das es morgen noch heißer werden soll. Und da haben wir auch noch einen Kater. Ich werde mir wünschen, tot zu sein. Bis später.“ Wieder zu Hause angekommen mache ich mir einen großen Teller Spaghetti Bolognese, den ich schnell aufesse. Dann gehe ich wieder duschen. Ich ziehe mir eine saubere Jeans und ein frisches T-Shirt an. Ich putze sogar meine Schuhe, das hab ich noch nie getan. Aber man muss halt auf jede Kleinigkeit achten wenn man Erfolg bei Frauen haben möchte. Ich bin fest entschlossen, heute die neue große Liebe kennen zu lernen und das „Elli-Dilemma“ hinter mir zu lassen. Und das nach drei Jahren, ich bin verrückt. Dazu werden einige Biere nötig sein, also fahre ich auf dem Weg zu Julian noch bei Tengelmann&Kaiser´s vorbei und kaufe einen Kasten.
Der Rest des Abends nimmt einen erwarteten Verlauf. Wir sitzen bei Julian auf dem Balkon und trinken Bier. Es kommen immer mehr Leute dazu, bis wir etwa zu fünfzehnt sind. Jeder bringt was zu trinken mit. Mit steigender Stimmung steigt auch die Lautstärke und irgendwann gegen 23.30 rufen die Nachbarn die Polizei und die Party ist damit beendet. Es gibt einige Streitigkeiten wie wir den Rest des Abends verbringen sollen. Deshalb teilt sich die Gruppe. Ich gehe mit Julian und zwei weiteren Freunden in den Unique-Club. Es sollte sich später herausstellen, dass dies ein Fehler war. Dort angekommen trinken wir erstmal noch ein Bier an der Theke. Sofort kommen meine beiden Kumpels mit zwei Frauen ins Gespräch und verschwinden mit den beiden in der Lounge des Clubs. Jetzt bin ich wieder mit Julian allein unterwegs. Wir beschließen, Tanzen zu gehen, obwohl ich mich noch viel zu nüchtern fühle, um wirklich tanzen zu können. Julian anscheinend nicht. Es wird gerade „Blumentopf - Party Safari“ gespielt, die Stimmung scheint auf dem Höhepunkt zu sein, obwohl es erst 1.00 Uhr ist. Ich probiere so gut es geht zu tanzen, komme mir aber ziemlich beobachtet vor und verlasse die Tanzfläche schnellst möglich. Ich beobachte aus sicherer Entfernung von der Theke aus, dass Julian voll in seinem Element ist und penetrant verschiedene Frauen antanzt. Eine der Angetanzten geht drauf ein. Die beiden bleiben noch zwei Lieder auf der Tanzfläche und gehen danach wohl auch in die Lounge. Ich bleibe sitzen und bestelle mir noch ein Bier. Das nächste Lied das gespielt wird ist „What's love got to do with it“. Alle Pärchen stürmen auf die Tanzfläche oder küssen sich. Ich kriege das Kotzen. Zwei Schnaps, bitte. Schon besser. Ich rauche eine nach der anderen und gucke den Leuten dabei zu, wie sie sich amüsieren. Ich fühle mich allein. Als wenn das nicht schon schlimm genug wäre, huscht auf einmal Elli durchs Geschehen. Damit haben sich meine hochgesteckten Ziele für heute Abend erledigt. Ich will nur noch hier weg, aber auch nicht nach Hause. Also bestell ich mir noch ein Bier und noch einen Kurzen, dann noch einen und noch einen und noch einen.
Plötzlich werde ich von der Sonne geweckt. Sie blendet mich stark, obwohl meine Augen geschlossen sind. Mein Kopf droht zu platzen. Ich habe unbeschreiblichen Durst. Ich bin total nass geschwitzt, meine Kleidung ist feucht. An meinen Handinnenflächen spüre ich kleine raue Körner. Es fühlt sich an wie Sand. Wo bin ich? Am Strand? Wie bin ich hier her gekommen? Im Hintergrund höre ich Musik und Kinderstimmen. Die Musik kommt mir bekannt vor. Die CD habe ich auch: „Rio Reiser - Junimond“. Langsam probiere ich meine Augen zu öffnen, es ist schwer, weil die Sonne so blendet. Und es ist heiß. Gefühlte 60°C. Als ich es dann geschafft habe meine Augenlider für wenige Millimeter auseinander zu pressen, wird mir schnell klar das ich nicht am Strand bin. Zehn Meter geradeaus steht ein Klettergerüst auf dem Kinder spielen. Ich schaue mich weiter um. Jetzt habe ich begriffen wo ich bin. Auf einem Spielplatz. Auf einem Spielplatz der ca. drei Straßen von meiner Wohnung entfernt ist. Links neben mir fünf Dosen Bier, alle verschlossen. Rechts neben mir eine Flasche Doppelkorn aus der ein Schluck genommen ist und ein großer Haufen Erbrochenes, außerdem zwei Taschentücher. Ich stehe vorsichtig auf. Mir geht es schlecht. Jetzt erkenne ich auch die Musikquelle. Es ist ein Auto. Es ist mein Auto. Nein. Es fühlt sich an, als wenn ich eine Stahlfaust in den Magen gerammt bekomme. Ich übergebe mich zweimal. Die Kinder gucken entsetzt zu mir rüber. Ein Rentnerehepaar, das gerade vorbeigeht, schüttelt mit dem Kopf. Was ist gestern nur passiert? Ich schleiche zum Auto, setze mich rein, stelle die Musik aus, schließe die Tür und kurble das Fenster hoch. Es ist 10.00 Uhr. Ich bleibe lange regungslos sitzen. Alles dreht sich. Ich bin noch immer betrunken. Mein Gewissen droht meine Nervenfasern auseinander zu reißen. Was habe ich nur getan? Ich springe aus dem Auto und gehe einmal drum herum. Alles in Ordnung, keine Kratzer, keine Beulen, Gott sei Dank. Ich setze mich wieder auf den Fahrersitz. Zehn Minuten später ist mein Puls etwas niedriger geworden. 150. Ich fahre los. Auf dem schnellsten Weg nach Hause. Ich parke das Auto auf dem verstecktesten Parkplatz den ich finden kann und gehe so schnell ich kann ins Haus, drei Etagen nach oben und dann in meine Wohnung. Ich lasse die Jalousien runter, zieh meine dreckigen Klamotten aus und lege mich aufs Bett. Ich denke an Elli, an Alkohol, an Freunde, an Autos, an Verkehrsunfälle, an Blut, an Tote, an tote Kinder, tote Tiere, an Fahrerflucht, an durchbrochene Polizeisperren, an Schüsse, ans Gefängnis und viele andere Sachen. Ich nehme 20mg Valium und schlafe ein. Um 16.12 Uhr wache ich wieder auf. Jetzt bin ich nüchtern. Besser geht es mir trotzdem nicht. Mir geht es schlechter, mir geht es viel schlechter. Meine Gedanken sind sofort wieder bei dem Spielplatz, bei dem Auto. Ich versuche den Abend zu rekonstruieren. Ab dem Zeitpunkt als ich Elli gesehen habe, finde ich nur noch Momentaufnahmen in meinem Gedächtnis. Ich hab’ getrunken, ich hab’ mich mit einer Frau unterhalten, hab’ mit einer Frau getanzt und vermutlich habe ich diese Frau auch geküsst. Ich kann mich aber nicht dran erinnern, wer diese Frau war. Der Zeitraum von da an bis zum Aufwachen auf dem Spielplatz wird in meinem Kopf als schwarzes großes Loch dargestellt. Ich habe keinerlei Erinnerungen. Ich wünsche mir ich wäre tot. Dann müsste ich nicht leiden, dann müsste ich nicht ertragen, dass meine Gewissensbisse mich lähmen. Dann müsste ich nicht mehr denken. Aber dieser Wunsch geht nicht in Erfüllung. Mein Telefon klingelt. Ich nehme nicht ab. Ich gucke auf mein Handy. 9 unbeantwortete Anrufe. Zwei sind von Julian, drei von anderen Freunden und 4 von unbekannten Anrufern. Ich denke darüber nach, einen der drei zurückzurufen und zu fragen, was ich gestern Nacht getan habe. Aber mir fehlt die Kraft. Wahrscheinlich hält mich die Angst vor der grausigen Wahrheit über den gestrigen Abend von einem Rückruf ab. Ich quäle mich zur Musikanlage und lege ein Album von Otis Redding ein, wähle Lied 27: „Wonderful World“, schalte auf Wiederholung. Dann lege ich mich wieder ins Bett. Das Lied passt irgendwie gar nicht zu meinem Leben. Aber ich finde es trotzdem toll. Deshalb höre ich es in der nächsten Stunde immer und immer wieder. In der Zeit klingelt das Telefon noch vier Mal. Vier Mal unbekannter Anrufer. Ich bin neugierig, wer die ganze Zeit probiert, mich zu erreichen, traue mich aber nicht abzunehmen. Es vergehen zwei weitere Stunden in denen sich meine Gedanken im Kreis drehen. Jetzt reicht es mir. Ich muss Näheres wissen. Ich rufe Julian an. Der hört sich auch nicht gerade frisch an. Aber er scheint mehr von dem Abend in Erinnerung behalten zu haben als ich. Er sagt, dass er die Frau von der Tanzfläche mit nach Hause genommen hat. Mich hat er die ganze Nacht nicht mehr gesehen. Aber wir hätten noch telefoniert. Gegen 5 Uhr morgens. Er meint, dass er mich kaum verstanden hat. Ich habe gefaselt, dass ich mein Herz wieder gefunden habe und dass ich es nur schnell mit dem Auto abholen würde. Dann habe ich gesagt, dass ich am Strand wäre. Danach aufgelegt. Das sind erst einmal genügend Informationen die ich verarbeiten muss. Danke Julian. Ich melde mich. Irgendwie fühle ich mich ein wenig erleichtert. Zumindest ein wenig. Vielleicht bin ich ja nur mit dem Auto an der Tankstelle vorbei und dann gleich zum Spielplatz, das wären nur ca. 500 Meter. Da ist bestimmt nichts passiert. Aber das bleibt abzuwarten. Abzuwarten, ob die Polizei sich die nächsten Tage bei mir meldet. Ich gucke kurz durch einen Spalt zwischen den Jalousien. Die Sonne scheint. Die Blumen blühen in prächtigen Farben. Im Hinterhof spielen Kinder im Planschbecken. Im Schatten unter dem großen Baum sitzen die Eltern, grillen Würstchen und Steaks, spielen Gitarre und unterhalten sich. Alles wirkt so warm und einladend. Nur nicht für mich. Ich verkrieche mich in mein Bett. Ich könnte heulen. Das Telefon klingelt wieder. Unbekannter Anrufer. Diesmal nehme ich ab. Am anderen Ende der Leitung grüßt eine freundliche Frauenstimme. Es ist Elli.
Daniel Pruefer - 27. Jan, 11:05